Teil 1 – Entstehung und Diagnostik
Die Bezeichnung Ulcus cruris venosum (UCV) setzt sich aus drei Begriffen zusammen:
- Ulcus steht für die Wunde,
- cruris für den Unterschenkel und
- venosum für die Grunderkrankung, die chronisch venöse Insuffizienz (CVI).
Dies bedeutet, ein UCV tritt nicht an den Füßen auf. Das UCV ist die schwerste Form der CVI. Es liegt eine venöse Abflussstörung vor. Dadurch sammeln sich Abfallstoffe und andere schädliche Substanzen an und beeinträchtigen die Qualität des Bindegewebes. In der Folge entsteht eine Wunde, die bis zur Subkutis reichen kann. Zu Beginn treten hohe Exsudatmengen auf. Solche Wunden heilen nur schwer ab und erfordern eine aufwendige, koordinierte Therapie. Zeigt ein UCV unter einer sachgerechten Versorgung innerhalb von drei Monaten keine Heilungstendenz oder ist innerhalb eines Jahres nicht abgeheilt, wird es als therapieresistent bezeichnet. Laut Schätzungen hat bis zu 0,2 % der deutschen Bevölkerung ein florides UCV. Mit einem Anteil von 51–80 % ist das UCV die häufigste Form des Ulcus cruris. Daneben gibt es noch weitere Formen eines Ulcus cruris: z. B. Ulcus cruris arteriosum (10–15 %) aufgrund einer arteriellen Durchblutungsstörung (pAVK) und das Ulcus cruris mixtum (13–15 %), das sowohl auf eine CVI und pAVK zurückgeht. Zudem entstehen bis zu 20 % der Ulzera cruris durch andere Ursachen: z. B. Dermatosen, Vaskulitiden, Malignome, Lymphödeme oder hämatologische Krankheiten.
Das Entstehungsrisiko für ein UCV nimmt mit dem Lebensalter zu. Durch eine hohe Rezidivrate werden Lebensqualität und Adhärenz der Betroffenen beeinträchtigt.
Bei einer CVI führt die Erweiterung der Venen dazu, dass die Venenklappen nicht mehr schließen können und ihre Ventilfunktion verlieren. Daher staut sich venöses Blut in den unteren Extremitäten und wird nicht mehr ausreichend zum Herzen abgepumpt. Es bildet sich ein „Privatkreislauf“ aus, in dem das venöse Blut zirkuliert. In der Folge entstehen Fuß-, Knöchel- und Unterschenkelödeme sowie schwere Beine. Die Haut gerät in diesen Regionen unter Spannung und wird anfälliger. Sie ist zunehmend trocken, schuppig, juckt, verhärtet (Dermatoliposklerose) und nicht mehr in Falten abhebbar. Aufgrund der Stauung werden Abfallstoffe nicht mehr ausreichend abtransportiert, so dass sich unter anderem Hämosiderin (wasserunlösliche Eisen-Eiweiß-Verbindungen) ablagert. Dadurch erscheint die Haut oft gelb-braun verfärbt (Purpura jaune d’ocre). Das Gewebe kann diese Minderversorgung mit Blut und Nährstoffen sowie die Ansammlung von Abfall- und Schlackenstoffen nur über eine kurze Zeit kompensieren. Bereits eine kleinste Verletzung kann jetzt ein UCV auslösen (Abb1.).
Abb. 1 UCV, trockene Haut, Purpura jaune d'ocre und Dermatoliposklerose,
Foto Kerstin Protz, Hamburg.jpg (Bildnachweis: siehe rechtlicher Hinweis)
Typische Ursachen für eine CVI sind, z. B.:
- Varikosis der oberflächlichen (suprafaszialen) Venen
- Thrombose der tiefen (subfaszialen) Venen
- Thrombophlebitis
- großflächige Verletzungen
- Angiodysplasie
Zudem gibt es Risikofaktoren, die die Venen belasten, die Arbeit der Venenpumpen einschränken und somit das Risiko einer CVI erhöhen, z. B.: Adipositas, Bewegungsmangel, hormonelle Einflüsse („Pille“), Bindegewebsschwäche, Vererbung, Wärmeanwendungen (z.B. heiße Bäder, Sauna, Sonnenbäder), tragen von Schuhen mit hohen Absätzen, stehende oder sitzende Tätigkeiten und lange Flugreisen.
Eine frühzeitige Aufklärung gefährdeter Patienten ermöglicht, die Anzeichen einer CVI frühzeitig zu erkennen. Typische Symptome sind:
- Krämpfe oder stechende bis ziehende Schmerzen in den Waden
- Schweregefühl, Hitzeempfinden und/oder Spannungsgefühl in den Beinen
- Schwellungen am Knöchel
- Entstehen von kleinen Venenerweiterungen, sogenannten Besenreisern oder Ausbildung von Varizen
Die nachfolgende Tabelle fasst Symptome und Auswirkungen von CVI und UCV zusammen.
Übersicht UCV | |
Grunderkrankung |
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Typische Lokalisation |
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Wundrand/Form |
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Wundtiefe |
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Schmerzen |
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Hauterscheinungsbild |
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Ödeme |
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Hauttemperatur |
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Fußpulse |
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Wundbeschaffenheit |
Cave: Nekrosen deuten auf eine pAVK oder andere Erkrankungen hin! |
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Abb. 2 Atrophie blache, bräunlich verfärbte Haut und Besenreiser Foto Kerstin Protz, Hamburg (Bildnachweis: siehe rechtlicher Hinweis) |
Abb. 3 Kratzspuren Foto Kerstin Protz, Hamburg (Bildnachweis: siehe rechtlicher Hinweis) |
Abb. 4 Besenreiser Kerstin Protz, Hamburg (Bildnachweis: siehe rechtlicher Hinweis) |
Eine umfassende Diagnostik ermöglicht Aussagen über Ausmaß der CVI und Folgen für Haut und Wunde sowie mögliche Komplikationen. Folgende Aspekte sind zu betrachten, z. B.:
- Inspektion auf: Hautveränderungen und Verfärbungen, Wundlokalisation/-beschaffenheit, Entzündungszeichen, Besenreiser, Varizen, Ekzeme, Narben
- Palpation von: z. B. Hauttemperatur, Arterienpulsen, Dermatoliposklerose, Faszienlücken, Ödem
Tipp: ein Lymphödem betrifft auch die Zehen. Beim sogenannten positiven Stemmerzeichen kann am zweiten Zeh keine Hautfalte angehoben bzw. die Haut eingedrückt werden (Abb. 5). Dies weist auf ein Lymphödem hin.
Abb. 5 Positives Stemmerzeichen, am zweiten Zeh ist keine Hautfalte abhebbar
Kerstin Protz, Hamburg (Bildnachweis: siehe rechtlicher Hinweis)
- ggf. Wundabstrich: zur Bestimmung multiresistenter Erreger (MRE) oder um bei systemischen Infekten eine Antibiogrammbestimmung durchzuführen
- Gangbild begutachten: bei eingeschränkten Muskelpumpen kann die Kompressionstherapie, die eine wichtige Säule in der Behandlung des UCV ist, nicht vollumfänglich wirksam werden. Bei Einschränkung des physiologischen Abrollvorgangs ist eine Gangschulung per Physiotherapie hilfreich.
- Neuropathie-Screening: auf Sensibilitätsstörungen, z. B. mit Stimmgabel (Vibrationsempfunden/Tiefensensibilität), 10g-Monofilament (Berührungssensibilität) und Tip-Therm (Wärme-Kälte-Empfinden) → hat der Betroffene nur noch eine sehr eingeschränkte oder keine Wahrnehmung mehr, kann die Anlage einer Kompressionsversorgung unbemerkt zu Einschnürungen und Komplikationen führen.
- Knöchel-Arm-Druck-Index (KADI): dient zur Erhebung des arteriellen Durchblutungsstatus und gibt Hinweise auf die Ausprägung einer ggf. vorhandenen arteriellen Mitbeteiligung an. Im Liegen wird mit einem Taschendopplergerät und einer Blutdruckmanschette der systolische Armarteriendruck an der A. radialis sowie der systolische Druck über der Knöchelarterie (A. tibialis posterior) und über der Fußrückenarterie (A. dorsalis pedis) (Abb. 6) gemessen. Für die Beurteilung der Perfusion zur Wundheilung wird der höhere Wert notiert. Die Berechnung des KADI erfolgt per Division von systolischem Fußarteriendruck geteilt durch systolischen Armarteriendruck. Ein KADI von < 0,9 weist bereits auf eine pAVK hin. Liegt dieser Wert bei < 0,5 besteht eine kritische Ischämie. Eine Kompressionstherapie ist in diesem Fall kontraindiziert!
- Doppler-/Farbduplexsonografie (Ultraschall): gibt Aufschluss über die venösen und arteriellen Durchblutungsverhältnisse
- Labor: z. B. Blutfette, HbA1c, Gerinnung, CRP, Blutbild
- ggf. histologische Abklärung: z. B. bei therapieresistenten Ulzera und Ausschluss von Hautkrebs
Abb. 6 Messung des systolischen Fußrückenarteriendrucks
Kerstin Protz, Hamburg (Bildnachweis: siehe rechtlicher Hinweis)
Die chronisch venöse Insuffizienz ist eine Zusammenfassung aller fortgeschrittenen Krankheitszustände, die sich aus Rückflussstörungen des venösen Blutes an den unteren Extremitäten ergibt. Je nach Art der Abflussstörung, des Schweregrads der Klappenstörung, der Lokalisation und Dauer treten unterschiedliche Symptome auf. Die CVI wird unter anderem nach Widmer in drei Grade klassifiziert und orientiert sich an den sicht- und tastbaren Hautveränderungen.
Klassifikation der chronischen venösen Insuffizienz nach Widmer, mod. nach Marshall
(Marshall und Wüstenberg 1994)
Klassifikation | der CVI nach Widmer, modifiziert nach Marshall (Marshall und Wüstenberg 1994) |
Grad I | Corona phlebectatica paraplantaris (lokale Gefäßerweiterungen/Besenreiser am medialen und lateralen Fußrand), Phlebödem |
Grad II | Ödem unterschiedlicher Ausprägung, Dermatoliposklerose, Atrophie blanche, Purpura jaune d'ocre, Stauungsekzem |
Grad IIIa | abgeheiltes Ulkus (Ulkusnarbe) |
Grad IIIb | stark entwickeltes (florides) Ulkus |
Die CEAP-Klassifikation berücksichtigt neben den sicht- und tastbaren Hautveränderungen zusätzlich anatomische, ätiologische und pathophysiologische Aspekte. Eine klinische Untersuchung zur Erfassung des Venenzustands ist die Grundlage für diese Einteilung.
CEAP-Klassifikation (Porter und Moneta 1995)
C (Clinical signs): die klinischen Zeichen bilden die sicht- und tastbaren äußerlichen Veränderungen und Schädigungen ab (vergleichbar mit der Widmer-Klassifikation)
C0 keine sicht- oder tastbaren Zeichen einer venösen Erkrankung
C1 Besenreiser und/oder retikuläre Varizen
C2 Varizen
C3 Ödem
C4 Hautveränderungen bedingt durch venöse Insuffizienz: Dermatoliposklerose, Atrophie blanche, Pigmentation, Stauungsekzeme
C5 abgeheiltes Ulcus cruris venosum
C6 aktives Ulcus cruris venosum
E (Etiology): ätiologische Klassifikation
Ec kongenital (angeboren)
Ep primär (mit unbestimmten Grund)
Es sekundär (mit bekanntem Grund: z. B. postthrombotisch, posttraumatisch, anderes)
En keine venöse Ätiologie identifizierbar
A (Anatomy): bildet die anatomische Verteilung ab
As oberflächlich, Defekt im suprafaszialen Venensystem
Ad tief, Defekt im subfaszialen Venensystem
Ap Defekt der Perforansvenen
An keine venöse Lokalisation identifizierbar
P (Pathophysiology): bildet den pathophysiologischen Befund ab
Po Obstruktion
Pr Reflux
Po, r Obstruktion und Reflux
Pn keine venöse Pathophysiologie identifizierbar
Zudem können diverse Komplikationen auftreten. Hierzu gehören, z. B. Stauungszeichen, Dermatitis, lokale Wundinfekte und die Ausbildung eines Erysipels. Weitere Komplikationen sind Kontaktirritationen/-allergien mit Ekzemenausbildung (Abb. 7) aufgrund von Unverträglichkeit, z. B. gegenüber Salbengrundlagen, Lokalantibiotika oder Wundauflagen, bis hin zum generalisierten Ekzem, das auf den gesamten Körper über geht. Zudem besteht das Risiko der Karzinomentwicklung.
Abb. 7 Toxisches Kontaktekzem aufgrund einer Unverträglichkeit gegenüber Pflegeprodukten
Kerstin Protz, Hamburg (Bildnachweis: siehe rechtlicher Hinweis)
In Teil 2 geht es um die Kompressionstherapie, eine wichtige Säule in der Versorgung von Menschen mit UCV.
Autor und Quellen:
Kerstin Protz
Gesundheits- und Krankenpflegerin, Projektmanagerin Wundforschung am Institut für Versorgungsforschung in der Dermatologie und bei Pflegeberufen (IVDP) am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf, Referentin für Wundversorgungskonzepte, Vorstandsmitglied Wundzentrum Hamburg e. V., Deutscher Wundrat e. V. und European Wound Management Association (EWMA)
Literatur
Deutsche Gesellschaft für Phlebologie (2019). AWMF S2k - Leitlinie: Medizinische Kompressionstherapie der Extremitäten mit Medizinischem Kompressionsstrumpf (MKS), Phlebologischem Kompressionsverband (PKV) und Medizinischen adaptiven Kompressionssystemen (MAK). AWMF-Leitlinien-Register Nr. 037/005
DGfW Deutsche Gesellschaft für Wundheilung und Wundbehandlung e. V. (2012). Lokaltherapie chronischer Wunden bei Patienten mit den Risiken periphere arterielle Verschlusskrankheit, Diabetes mellitus, chronische venöse Insuffizienz. 2012. AWMF-Leitlinien-Register Nr. 091/001
Dissemond J, Protz K, Reich-Schupke S, Stücker M, Kröger K (2016). Kompressionstherapie des Ulcus cruris. Der Hautarzt; 67:311-325.
Jockenhöfer F et al. Aetiology, comorbidities and cofactors of chronic leg ulcers: retrospective evaluation of 1 000 patients from 10 specialised dermatological wound care centers in Germany. Int Wound J. 2016; 13(5): 821–828.
Protz K, Dissemond D, Kröger K (2016). Kompressionstherapie – Ein Überblick für die Praxis. Springer Verlag, Heidelberg
Protz K, Timm JH (2019). Moderne Wundversorgung, Praxiswissen, 9.Auflage, Elsevier Verlag, München
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